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Design Glossar: Gingerbread-Architektur
Der Name klingt nach Zimt, Nelken und winterlicher Nostalgie. Doch der Begriff „Gingerbread“ verweist nicht auf die Adventszeit, sondern beschreibt einen überbordenden Dekorationsstil des 19. Jahrhunderts.
Filigran wirkend wie Zuckerguss? Ja, das schon! Gingerbread-Architektur Gemeint sind architektonische Elemente, die so filigran wirken wie Zuckerguss – kunstvoll ausgeschnittene Holzornamente, die Fassaden und Innenräume schmücken. Der Stil entwickelte sich aus der viktorianischen Architektur und fand vor allem in Nordamerika, der Karibik und in Teilen Asiens Verbreitung.
Ursprung in Nordamerika
Seinen Ausgang nahm der Gingerbread-Stil in den 1830er und 1840er Jahren in den USA, als die neugotische Steinarchitektur Europas für den Holzbau adaptiert wurde – zunächst noch schlicht, später reich ornamentiert. Der technische Durchbruch kam Mitte des Jahrhunderts: Dampfbetriebene Dekupiersägen ermöglichten die massenhafte Produktion dünner, dekorativer Holzelemente. Diese „Lebkuchenelemente“ verliehen den Häusern der Ostküste, Chicagos und später San Franciscos ihr charakteristisches Aussehen. Der große Brand von Chicago 1871 zerstörte viele dieser Gebäude, tat der Popularität des Stils in den folgenden Jahrzehnten aber keinen Abbruch.

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Auch Kanada entwickelte eigene Varianten: In Ontario wurden ab den 1830ern Giebel und Fassaden mit aufwendigen Holzverzierungen gestaltet. Die Hafenstadt Cape May in New Jersey gilt bis heute als eine der größten Ansammlungen von Gingerbread-Häusern – ein Ergebnis des Wiederaufbaus nach einem verheerenden Brand 1878.
In Kalifornien verschmolz der Stil später mit dem sogenannten Eastlake-Stil, benannt nach dem britischen Architekten Charles Eastlake. Gedrechselte Spindeln, dekorative Paneele und ornamentierte Veranden prägten nun das Bild, auch wenn Eastlake selbst die amerikanische Auslegung als „bizarr“ empfand.
Die karibische Variante – Gingerbread in Haiti
Besonders eigenständig entwickelte sich der Stil in Haiti, wo er ab den 1880er Jahren eine Verbindung aus lokalen Bautraditionen, europäischem Einfluss und den Erfahrungen haitianischer Architekten formte. Große Fenster, hohe Räume, tiefgezogene Veranden und steile Dächer prägen diese Bauten – perfekt angepasst an das tropische Klima. Gitterwerke, Laubsägeornamente und große Dachböden verliehen den Häusern einen unverwechselbaren Ausdruck.
Der zweite Nationalpalast, die Villa der Familie Sam (später das Hotel Oloffson) sowie zahlreiche Residenzen in Port-au-Prince stehen exemplarisch für diese Epoche. Bis 1925 verbreitete sich der Stil im ganzen Land. Mit dem Aufkommen von Beton und neuen Brandschutzvorschriften verlor er an Bedeutung, blieb aber im Wohnbau der Mittelschicht präsent.

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Interessant: Die Bezeichnung „Gingerbread“ etablierte sich erst in den 1950er Jahren durch amerikanische Touristen – inspiriert von der Ähnlichkeit zu den verzierten Holzbauten ihrer Heimat.
Robust, klimaangepasst – und überraschend resistent
Beim Erdbeben 2010 zeigte sich eindrucksvoll die Stabilität der haitianischen Gingerbread-Häuser: Viele überstanden die Erschütterungen besser als moderne Betonbauten. Flexible Holzrahmen, natürliche Belüftung durch Lamellenfenster und bauklimatische Intelligenz machten sich bezahlt. 2020 wurden die haitianischen Gingerbread-Gebäude in die World Monuments Watch aufgenommen.


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