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Inspiration Stiegenhaus
Vom vergessenen Zwischenraum zum architektonischen Statement – warum das Stiegenhaus gerade dabei ist, seine beste Zeit zu erleben.
Lange Zeit galt das Stiegenhaus als reine Funktion. Ein Übergang. Ein Durchgang. Ein Ort, den man hinter sich lässt, um anderswo anzukommen. Doch in den letzten Jahren vollzieht sich eine leise, aber spürbare Neubewertung: Architekten, Innenarchitektinnen und Bauherren entdecken das vertikale Rückgrat eines Hauses als eigenständigen Raum.
Aufstieg als ErlebnisWas macht ein Stiegenhaus zum Ereignis? Es ist die Inszenierung des Übergangs. Während der Lift uns in sekündlicher Schwerelosigkeit nach oben befördert, zwingt die Stiege zur Bewegung, zum Innehalten, zum Blickwechsel. Jede Stufe, jedes Geländer, jeder Lichteinfall wird zur gestalterischen Entscheidung. Das macht das Stiegenhaus zu einem der komplexesten, aber auch dankbarsten Entwurfsthemen der Architektur.Besonders deutlich wird das in Neubauten, die das Stiegenhaus nicht verstecken, sondern bewusst ins Zentrum rücken. Offene Treppenkonstruktionen aus Stahl oder Holz, schwebende Stufen ohne sichtbare Befestigung, umlaufende Handläufe aus Messing oder Leder – die Materialpalette ist breit.
© Giulia Koeler
Terrazzo, einst pragmatischer Bodenbelag im öffentlichen Bau, kehrt zurück – allerdings in neuen Farbstellungen, feinkörniger, wohnlicher. Naturstein bleibt beliebt, aber nicht mehr in polierter Monumentalität, sondern mit matter Oberfläche, die Patina zulässt.
Holz, ohnehin ein Klassiker der Stiegengestaltung, wird zunehmend puristisch eingesetzt: massiv, unbehandelt, mit sichtbarer Maserung. Die Konstruktion wird nicht kaschiert, sondern betont. Das Ergebnis ist eine Ästhetik der Ehrlichkeit, die gut zur aktuellen Sehnsucht nach Haptik und Authentizität passt.
Metall hingegen dient oft als Kontrapunkt: dünn, präzise, kühl. Besonders in Kombination mit warmen Hölzern oder textilen Elementen entsteht eine gute Spannung.
© April ´AC´ Chapman
Licht als Leitmotiv
Nichts prägt die Atmosphäre eines Stiegenhauses so sehr wie das Licht. Wer einmal durch ein Treppenhaus mit durchgehendem Oberlicht gegangen ist, kennt den Effekt: Der Raum öffnet sich nach oben, die Vertikale wird spürbar, der Aufstieg verliert seine Schwere.
Auch in Altbauten, wo nachträgliche Eingriffe oft begrenzt sind, kann gezieltes Kunstlicht den Charakter verändern. Linear eingelassene LED-Profile betonen die Stufenkante, indirekte Beleuchtung hinter Handläufen schafft Orientierung ohne Blendung.
© Patriciiamg interiors
Zwischen Privatheit und Repräsentation
In Mehrfamilienhäusern ist das Stiegenhaus immer auch Schwellenraum. Es gehört niemandem ganz, wird aber von allen genutzt. Diese Ambivalenz fordert besondere Sensibilität: Zu intim darf es nicht werden, zu anonym aber auch nicht. Hier zeigt sich gute Gestaltung in der Balance.
© Indigo Collective
Wohnhäuser der Zwischenkriegszeit haben das oft meisterhaft gelöst: mit edlen Materialien, großzügigen Proportionen, zurückhaltender Ornamentik. Heute orientieren sich viele Sanierungen an diesem Vorbild, ohne es zu kopieren. Der Respekt vor der Substanz bleibt, die Sprache wird zeitgenössisch.
In Einfamilienhäusern hingegen wandelt sich das Stiegenhaus zunehmend zum kommunikativen Raum. Galerien, Leseplätze, eingebaute Regale: alles ist denkbar.
© EJVALENTINO_DESIGN



