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Das Comeback der Stahlrohrmöbel
Vom Bauhaus bis heute: Wie Stahlrohrmöbel von Cassina bis Gallotti & Radice industrielle Strenge in zeitlose Eleganz verwandeln.
Was einst als kaltes Material der Maschine galt, ist heute Träger von Eleganz und Beständigkeit. Stahlrohr und Schaukelmechanik: Die Moderne sitzt!
Stahlrohr und Schaukelmechanik: Die Moderne sitzt
Eine Chaiselongue, die jahrzehntelang dem falschen Entwerfer zugeschrieben wurde. Ein Clubsessel, benannt nach einem Maler. Stahlrohrmöbel erzählen Geschichten von Avantgarde, Missverständnissen und spätem Ruhm.
Wenn eine Skizze zum Mythos wird
Manchmal beginnt eine Designikone mit einem Missverständnis. Die Cassina 4 Chaise longue à reglage continu – besser bekannt unter ihrem früheren Namen LC4 – galt Jahrzehnte lang als Werk von Le Corbusier. Dabei scheint die eigentliche Genialität hinter der schaukelnden Liege von einer anderen Person zu stammen: Charlotte Perriand, der französischen Architektin und Designerin, die in Le Corbusiers Atelier arbeitete.
1927 skizzierte Le Corbusier Figuren in verschiedenen Sitzpositionen, darunter eine Person mit hochgelagerten Füßen – eine Haltung, als würde sie sich gegen einen Baum stemmen. Aus dieser flüchtigen Zeichnung entwickelte Perriand ein durchdachtes Konzept: eine Liege auf einer Stahlwiege, variabel in der Position wie ein Schaukelstuhl. Die geschwungene Sitzfläche passt sich der Körperform an, die gerollte Kopfstütze und der elegante Rahmen formten ein Profil, das heute zu den bekanntesten der Möbelgeschichte zählt.
Ihre Inspiration fand Perriand nicht bei Le Corbusier, sondern beim Thonet-Schaukelstuhl. Als sie später gefragt wurde, ob es sie störe, dass die LC4 stets Le Corbusier zugeschrieben werde, antwortete sie, es sei ihr völlig egal. 2022 korrigierte Cassina schließlich die Zuschreibung und verzichtete auf die irreführende Bezeichnung LC4. Ein später Akt der Gerechtigkeit für eine Designerin, deren Beitrag zur Moderne lange im Schatten ihres prominenten Chefs stand.

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© Charlotte Perriand/ Cassina
Avantgarde, die keiner haben wollte
Die Karriere der Chaiselongue begann alles andere als glanzvoll. Als sie 1929 auf dem Salon d'Automne in Paris debütierte, war sie ihrer Zeit offenbar zu weit voraus. Thonet, damals führend in der Stahlrohrmöbel-Produktion, fertigte die ersten Prototypen. Das Material galt als revolutionär, doch der Preis schreckte ab. Bis 1937 entstanden gerade einmal 172 Exemplare – ein mageres Ergebnis im Vergleich zum millionenfach verkauften Thonet-Bugholzstuhl Nr. 18.
In der Korrespondenz mit Perriand merkte Thonet an, der hohe Preis der Serie „Le Corbusier-Jeanneret-Perriand" entspreche nicht den Erwartungen preisbewusster Käufer. Die Wirtschaftskrise von 1929 tat ihr Übriges: Avantgardistisches Möbeldesign fand in Zeiten finanzieller Unsicherheit kaum Abnehmer.

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© Thonet
Erst 1964, mit der Neuauflage durch das italienische Unternehmen Cassina, erreichte die Chaiselongue ihr Publikum. Seitdem ist sie aus dem Sortiment nicht mehr wegzudenken. Perriand selbst experimentierte nach dem Ende des Thonet-Vertrags 1938 weiter: Sie entwarf eine Holz-Leder-Version der Liege, die kostengünstiger sein sollte. Während ihres Aufenthalts in Japan entstand 1940 die Chaise longue Tokyo – eine organisch geschwungene Variation aus Bambus, Teak oder Buche, die ebenfalls von Cassina produziert wird.
Vom Fahrradlenker zum Bauhaus-Klassiker
Während Perriand mit Stahlrohr und Schaukelmechanik experimentierte, revolutionierte Marcel Breuer am Bauhaus in Dessau den Sitzmöbelbau. 1925 entwarf der damalige Jungmeister und Leiter der Möbelwerkstatt den Clubsessel B3 – inspiriert von der Verwendung von Stahlrohr im Fahrradbau. Das quadratische Gerüst aus kaltgezogenen, nahtlosen Stahlrohren war ursprünglich vernickelt, heute wird es verchromt. Bespannt mit Streifen aus Stoff, Leinwand oder Leder sowie mit Eisengarn, das die Bauhäuslerin Margaretha Reichardt in der Webwerkstatt entwickelte, entstand ein Sitzmöbel, das den Körper trägt, ohne direkten Kontakt zum Metall herzustellen.

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© Margaretha Reichardt/ Vitra
Die gebogenen Stahlrohre fertigten die Junkers-Flugzeugwerke in Dessau – eine damals neue Verarbeitungstechnik, die zeigt, wie eng Design und industrielle Innovation verknüpft waren. Der Clubsessel B3 wurde zum Vorzeigeobjekt des Neuen Wohnens und Teil der Möblierung des 1926 eröffneten Bauhaus-Gebäudes.
Seinen heutigen Namen erhielt der Sessel allerdings erst Jahrzehnte später. Als der italienische Unternehmer Dino Gavina in den 1960er Jahren die Lizenz erwarb und den Stuhl ab 1964 in Bologna produzierte, taufte er ihn aus Marketinggründen in „Wassily Chair" um. Gavina wusste, dass der Bauhaus-Meister Wassily Kandinsky ein Exemplar für sein Dessauer Meisterhaus hatte anfertigen lassen. Nach der Übernahme Gavinas durch Knoll International 1968 produziert das US-Unternehmen den Stuhl bis heute. Seit 2013 gibt es wieder eine Variante mit Leinenbespannung – günstiger als Leder und näher am Original.
Stahlrohr bleibt aktuell
Was einst als kaltes Material der Maschine galt, ist heute Träger von Eleganz und Beständigkeit.Vielleicht liegt genau darin seine zeitlose Kraft,
Dass Stahlrohr als Material für elegante Sitzmöbel nichts von seiner Faszination verloren hat, zeigen nämlich aktuelle Entwürfe. Der deutsche Designer Sebastian Herkner verbindet in seiner Stuhlkollektion Aristo für ClassiCon Komfort mit präziser Formgebung. Eine zweiseitig gepolsterte Rückenlehne, eingefasst von einem geschwungenen Stahlrohrrahmen, und eine charakteristische Schattenfuge zwischen Basis und Sitzpolster verleihen dem Entwurf eine zeitgenössische Eleganz. Der Name áristos – altgriechisch für „der Vorzüglichste" – verweist auf die klassische Anmutung und qualitative Verarbeitung.

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© ClassiCon/ Drifte Shop
Auch der italienische Hersteller Gallotti&Radice setzt mit dem Loulou Rock auf die Kombination aus Metall und traditionellem Handwerk: Ein Schaukelstuhl mit schwarz lackierter Metallstruktur und Details aus poliertem Stahl oder Messing, die Armlehnen aus massivem Walnussholz. Das Unternehmen, das ausschließlich in Italien produziert, verbindet zeitgenössisches Design mit handwerklicher Präzision.

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© Gallotti&Radice
Titelbild: Quer: © Cassina; Hoch: © ClassiCon/ Drifte Shop



