Im Spannungsfeld zwischen Prestige, Design, Ethik, Nachhaltigkeit, Ressourcen und Preisdurchsetzbarkeit.
Kaum eine andere Branche ist so sehr mit Leidenschaft und Kreativität verbunden wie professionelles Handwerk. Dennoch litt österreichische Handwerkskunst lange unter ihrem Image, dem mangelndem Anreiz für die Handwerkslehre sowie den Gepflogenheiten einer Wegwerfgesellschaft. Aber schon vor der Coronapandemie war ein gewisses Revival im Handwerk zu spüren, basierend auf einem größerem Respekt gegenüber per Hand gefertigten Produkten mit höherer Qualität, regional, nachhaltig und ressourcenschonend hergestellt.
Die Krise der letzten Monate sowie die damit einhergehende Werteverschiebung im Bewusstsein von uns Konsumenten hat regionalem Handwerk zu neuem Prestige verholfen. Die Auftragsbücher sind voll, kompetente Handwerksbetriebe gefragter denn je, gute Handwerker Mangelware. Der plötzlich steigenden Nachfrage nach handwerklich gefertigten Produkten stehen neue Herausforderungen gegenüber: die Rohstoffverknappung, die damit verbundenen Preiserhöhungen respektive Lieferschwierigkeiten sowie der Fachkräftemangel. Denn es war lange Zeit schlichtweg nicht „in“, anstelle eines Studiums nur eine Lehre zu machen. Zudem wird die Erwartungshaltung seitens der Kunden zu nachhaltiger Fertigung mit ästhetischem Designanspruch immer größer.
Planung & Digitalisierung
So bewahrheitet sich heute für Heinz Glatzl, Innenarchitekt und Geschäftsführer von M&G, das alte Sprichwort „Handwerk hat einen goldenen Boden“, „denn die Branche rennt den fachmännischen Handwerkern förmlich hinterher“. Aus seiner Sicht ist „die aktuelle Situation in der Planungsphase und am Bau aufgrund der Rohstoffverknappung sowie den teilweise fünffach so hohen Materialpreisen eine brutale Herausforderung. Daher ist es für uns sehr schwierig, verbindliche Preisofferte an Kunden abzugeben. Im Moment ist die Luft etwas raus und es gilt abzuwarten, wie sich der Markt entwickeln wird. Manche Kunden verschieben sogar aufs nächste Jahr.“ Dass sich ein guter Handwerker heute „eine goldene Nase verdienen könne“, sieht auch Manfred Bauer, Geschäftsführer bei Mandl & Bauer. „Allerdings braucht es Leidenschaft für das Gewerk, Flexibilität bei den Arbeitsstunden und Bereitschaft zur Mobilität, denn viele Kunden sind (inter)national verstreut. Die Gehälter werden steigen müssen.“
Eine weitere Komponente stellt der Einzug der Digitalisierung in die Planungsphase dar. „Das Handwerk verlagert sich immer mehr raus aus der Werkstatt rein in die Arbeitsvorbereitung. So ist auch handwerkliches Können selbst bei jenen Mitarbeitern gefragt, die digitalaffin sind und am Computer die Detailplanung erstellen. Denn Letztere funktioniert nur, wenn man das Handwerk auch wirklich selbst gelernt hat und Verständnis für die einzelnen Arbeitsprozesse mitbringt.“ Auf diese Weise könne man bereits im Entwurf den Stress bei der späteren Tätigkeit in der Werkstätte oder am Bau rausnehmen, ist Heinz Glatzl überzeugt.
Leidenschaft & Handwerksethik
Im Zeitalter der Digitalisierung verspürt auch das Formdepot schon lange eine gewisse postindustrielle Nostalgie für das Vorindustrielle. Wir Konsumenten sehnen uns – speziell nach Monaten der Kommunikation via Digital Devices mit ihren glatten, kühlen Oberflächen – nach natürlichen Materialien mit Struktur und Haptik. Nach Objekten, die erst durch ihre kleinen Unebenheiten zu Unikaten werden und liebevoll in einer Werkstatt per Hand gefertigt wurden. Hinzu kommt unsere verstärkte Neugierde nach der Herkunft der Materialien sowie den genauen Schritten im Fertigungsprozess. Ein Paradeunternehmen für leidenschaftliches „Schaffa“ ist der Vorarlberger Handwerksbetrieb Karak in Bludenz. Hier werden in einer ehemaligen Spinnerei kunstvolle Fliesen nach der japanischen Raku-Brennmethode hergestellt. Als junge Manufaktur vereint das Team aus sieben Mitarbeitern somit Leidenschaft, Tradition und Moderne. „Jede unserer Raku-Fliesen wird einzeln 36 Mal in die Hand genommen, geht sprichwörtlich durchs Feuer, ehe sie Anwendung findet und verlegt wird“, erzählt Thomas Röster, einer der beiden Geschäftsführer. „Unsere Aufgabe ist das Erhalten von Materialien, die Begeisterung für den kreativen Prozess sowie der Respekt vor der dafür notwendigen Geschwindigkeit, die Menschen beim gestalterischen Handwerk gut tut.“
Dass es allerdings speziell auf der Baustelle nicht immer friedlich zugeht, bringt Peter Speil, Prokurist beim Bau- und Zimmereiunternehmen Geischläger, ins Spiel. Gerne wird unter den einzelnen handwerklichen Betrieben die Schuld dem anderen zugeschoben. Da brauche es eine eigene Streitkultur, denn alle in Österreich geltenden Normen und Regelwerke könne man nicht kennen. „Eigentlich sollten sich die Handwerker bei Mangel, Schäden oder Fehlern diese Dinge untereinander ausmachen. Viele schützen sich jedoch schon vorher durch alle möglichen Versicherungen oder Gewährleistungen. Darunter leiden die Handwerksethik und der gegenseitige Respekt. Gibt es dann tatsächlich Probleme, wird oftmals gleich prozessiert“, bemängelt auch Thomas Rösler. „Ursprünglich hatten wir das Handwerk vom handwerklichen Tun gelernt und an Generationen weitergegeben, zudem stets eine ehrliche Rechnung gestellt. Heute wird schon die Jugend viel zu spät ans Handwerk und seine Lehren herangeführt, und es wird ihr viel zu wenig Integrität beigebracht.“ Die richtige Handwerkskultur entsteht für ihn aus dem Zelebrieren von Leidenschaft und Respekt vor dem anderen. Für Glatzl ist Handwerk sogar vergleichbar mit einem Teamsport. Allerdings sei es leichter, eine elfköpfige Fußballmannschaft zu coachen als sämtliche Handwerker unterschiedlicher Betriebe samt Bauherren am Bau. Peter Speil legt noch eines drauf, denn er fühlt sich nicht selten als Zirkusdirektor.
Rohstoffmangel & Preiserhöhung
Auf die Frage, ob denn die Verknappung an hochwertigen Materialien sowie die dadurch steigenden Preise die derzeitige Euphorie für handwerkliche Verarbeitung ausbremsen könnte, meint Silvia Berghofer, Geschäftsleitung der seit 1909 in Wien bestehenden Möbelwerkstätten Seliger: „Die Herausforderung sehe ich eher in unserer Firmenphilosophie, bei der Umsetzung individueller Wünsche wortwörtlich glückliche Kunden haben zu wollen.“ Als Spezialist für sogenanntes „bespoke furnishing“ (genau wie besprochen) bietet Seliger maßgefertigte Möbel sowie ausgewählte Modelle internationaler Hersteller unter einem Dach an. Der Begriff „bespoke“ steht dabei für höchste Individualität in allen Bereichen der Raumgestaltung und damit für eine unvergleichliche Qualität des Wohnens. Grundvoraussetzung sei aktives Zuhören schon beim ersten Beratungsgespräch. Die Umsetzung sowie der Feinschliff finden schließlich in der Handwerksstätte statt.
Ein Knackpunkt seien weniger die derzeit höheren Preise als vielmehr die mit der Rohstoffverknappung verbundenen Lieferverzögerungen. Denn das Familienunternehmen legt höchsten Wert auf Pünktlichkeit, Verlässlichkeit und Budgettreue. Allerdings sind aufgrund der Pandemie viele Lieferketten immer noch unterbrochen. Gefragt ist Flexibilität. Langjährige, stets erfolgreiche firmeninterne Prozesse müssen neu gedacht und adaptiert werden. Dennoch entsteht beim Team nicht selten in der Planung unnötiger Stress – sei es, weil gewisse Maßanfertigungen aufgrund fehlender Materialien und Zutaten nicht termingetreu umgesetzt werden können, sei es, weil die Werkstatt überquillt an gefertigten Möbeln, die aufgrund von Zeitverzögerungen am Bau nicht geliefert werden können.
Fachkräftemangel & Employer Branding
Auch Peter Speil sieht keine große Gefahr aufgrund derzeitiger Verknappung von Ressourcen oder höherer Rohstoffpreise. Die Problematik komme eher aus dem fehlenden Nachwuchs und dem Fachkräftemangel, denn „Handwerk ist am Land zu Hause“. Das Unternehmen hat sich in den letzten Monaten aufgrund seiner Firmengröße von circa 70 Mitarbeitern als überaus krisenresistent erwiesen. Jedoch sei es eine große Herausforderung, neue Lehrlinge sowie Fachkräfte zu gewinnen. Dabei ist nicht das Geld, sondern eher der familiäre Background der Anreiz, weil schon der Großvater oder Vater Maurer war. Dennoch setzt Geischläger auf Incentives wie Firmenwagen, Handy oder iPad respektive Laptop bei Bedarf. Das Wichtigste sind aber das persönliche Lob, die Anerkennung sowie der Respekt vor dem geleisteten Tagwerk der Mitarbeiter. Ähnlich einer Kleinfamilie verbringt das Gros des Teams von Montag bis Donnerstag auf Baustellen in Wien und Umgebung und ist hierfür in eigenen Mitarbeiterwohnungen untergebracht. Peter Speil besucht sie regelmäßig persönlich, denn Lob und Respekt auf Augenhöhe sind ihm wichtig. Das fördere auch bei kurzfristig auftretenden Gefahren oder Problemen die Eigeninitiative und aktive Mithilfe der Mitarbeiter – selbst außerhalb der Arbeitszeit.
Um dem Fachkräftemangel proaktiv entgegenzuwirken, haben nicht wenige der Betriebe neue Maßnahmen nach innen gesetzt. Während sich einige erstmals in Lehrlingsinitiativen versuchen, wurde bei der Firma Seliger ein eigener Verantwortlicher ausschließlich für Human Ressources sowie Employer Branding eingestellt, um Anreize fürs Tischlerhandwerk zu schaffen. Die gesamte Unternehmensgruppe umfasse 320 Mitarbeiter, davon allein 220 nur im Handwerk. „Obwohl im letzten Jahr nur kurzfristig Kurzarbeit angesagt war, hat die Arbeitsmoral darunter gelitten“, so Silvia Berghofer. Ihr persönliches Learning aus der Pandemie sei neben der Überzeugung, dass es immer weiterginge, eine gewisse Gelassenheit, denn man habe gelernt, nicht alles beeinflussen zu können. Die Firma denke in Generationen. Daher sei sie besonders stolz, dass erst unlängst ihr Neffe ins Unternehmen eingestiegen ist. „Langjährige Handwerkskunst ist aus klassischen Betrieben entstanden“, unterstreicht auch Rainer Sommer, Head of Marketing beim Unternehmen List GC. Sein Motto: „Tradition meets innovation“, denn stehen bleiben gehe auch im Handwerk nicht. Zudem brauche es heute die Unterstützung durch die Digitalisierung. Neben der laufenden Aus- und Weiterbildung, Team Building Events, Homeoffice und Arbeitsgruppen zum Thema New Work sowie Mitarbeiterbenefits bedarf es eines modernen Maschinenparks parallel zum Spezialhandwerk.