Beim Preview-Event zum Design District 1010 verteidigt Grafikdesigner Stefan Sagmeister die Schönheit gegen ihren schlechten Ruf. Auch im Publikum diskutiert man rege mit.
Dass Sagmeister seinen Vortrag im Formdepot hält, mag ein bisschen ironisch anmuten, denn hier hat die Schönheit einen ganz großen Stellenwert. Das Haus im 16. Bezirk beherbergt einen Zusammenschluss von Unternehmen aus den Bereichen Planung, Handwerk und Design, die es gemeinsam mit ihren Kreationen bespielen. Und so hält Sagmeister seine Keynote „Why Beauty Matters“, also ein Plädoyer für die Schönheit unserer Zeit in einer großen Wohnlandschaft. Um ihn herum hat es sich ein Publikum aus Formdepot Membern, Designern, Architekten, Immobilienentwicklern und anderen Interessierten bequem gemacht – an dem großen Naturholzesstisch und auf der schicken Couch, die die Leinwand einrahmen, an die Sagmeister seine Beispiele projiziert. Überhaupt stellt sich im ersten Moment die Frage, was jemand gegen die Schönheit haben könnte, wird sie doch überall als Verkaufsargument eingesetzt – etwa in Hotellerie und Tourismus, und auch die Beauty-Industrie verdient Milliarden mit unserem Wunsch, schön zu sein. Doch das ist es nicht, was Sagmeister meint. Vielmehr sind es Design und Architektur, die Schönheit und Funktionalität oft fälschlicherweise als Gegensatz behandeln, Funktionalität über Schönheit stellen und dabei eines außer Acht lassen, was Sagmeister in seinem Vortrag zentral herausstreicht: Schönheit ist Funktion.
Das anwesende Publikum ist ihm naturgemäß zugetan – sonst wäre man kaum hier. Nach der Keynote hat sich das Design DE LUXE Magazin mit zwei Zuhörern unterhalten, um zu erfahren, was man von Sagmeister und seinen Thesen mit Bezug auf die eigene Branche hält. „Klare Zustimmung“ signalisiert Thomas Jakoubek, Geschäftsführer des Bauträgers BAI, vor allem in puncto Architektur. Der „internationale Stil“, den wir in so gut wie allen Hochhäusern dieser Welt erkennen, ist laut Sagmeister das Ende des Lokalkolorits. Die Pagodendächer Asiens, die Eisbauten der Inuit, der Hüttenflair des Alpenraums – sie alle sind kastenhaften Türmen gewichen, die überall stehen könnten. „Gerade in Zeiten der sogenannten Globalisierung ist das ja nicht mehr zu verleugnen“, meint auch Jakoubek. Er plädiert zum einen für einen lokalen Bezug in der Architektur, fügt aber noch einen zweiten wichtigen Aspekt hinzu: den funktionalen Bezug. Man solle erkennen können, in welcher Art von Gebäude man sich befinde: „Ein Bahnhof soll aussehen wie ein Bahnhof und nicht wie ein Einkaufszentrum.“ Apropos Bahnhof – auch dafür bringt Sagmeister Beispiele. Konkret nennt er als Vorbild die Moskauer U-Bahn, deren Stationen nicht umsonst oft als unterirdische Paläste bezeichnet werden, jede für sich ein unverwechselbares Kunstwerk. Und genau diese Unverwechselbarkeit ist wiederum Funktion, argumentiert der Designer: „Auch wenn ich auf mein Handy schaue – ich spüre, erkenne aus dem Augenwinkel, wenn meine Station da ist. Ich muss nicht in immer gleichen Gängen nach einem sch**** Helvetica-Schriftzug schielen.“ Schönheit könne außerdem Un-Orte, wie er sie nennt, völlig verwandeln. Er nennt das Beispiel der Unterführung des Expressway im New Yorker Brooklyn. Der Betontunnel diente aufgrund seiner Hässlichkeit mehr als Urinal als sonst was. Sagmeister wurde beauftragt, das zu ändern. In Kollaboration mit dem japanischen Illustrator Yuko Shimizu wurden zwei Schriftzüge des Wortes „Yes“ gestaltet. Eines formt sich aus den Tentakeln eines riesigen Oktopus, das andere ist eine schlichtere Schwarz-Weiß-Komposition. Heute dient die Unterführung als beliebtes Fotomotiv für frisch verheiratete oder verlobte Paare.
Schönheit muss altern können
Jakoubek plädiert auch in der Diskussion um die Schönheit für Verhältnismäßigkeit: „Wenn Schönheit zu sehr kommerzialisiert wird, kann es leicht zu Überdesign kommen. Dann wird alles behübscht und geht am eigentlichen Ziel vorbei, Dinge zu machen, die uns als Menschen bewegen, nicht als Kunden.. Da sprechen wir nicht nur von ökologischer Nachhaltigkeit, sondern auch von wirtschaftlicher und natürlich ästhetischer Nachhaltigkeit.“ Er greift damit Sagmeister Argument auf, dass Hässliches eben nicht überdauert. Die uniformen Siedlungskästen des Funktionalismus, in dem sich die Ästhetik aus der Funktion ableitet und keinen eigenen Stellenwert hat, seien alleine schon deshalb nicht nachhaltig, weil dort schlicht und einfach niemand wohnen will. Die viel zitierte Zeitlosigkeit der Architektur findet Jakoubek dabei nicht so wichtig wie den Wohlfühlfaktor: „Man darf Gebäude schon ihrer Zeit zuordnen können – aber sie müssen auch gut altern. Man darf bewegen oder sogar ein bisschen provozieren, aber in Summe muss ein Wohlfühlcharakter entstehen – auch das ist ein Faktor von Schönheit.“ Patinafähigkeit ist der Begriff, den Sagmeister außerdem ins Spiel bringt. Wer schon einmal durch die kleinen Gässchen Roms geschlendert ist, weiß, dass hier viele Fassaden Risse haben, dass Putz abblättert, dass alte Fensterläden ein bisschen schief hängen – und doch tut all das ihrer Schönheit keinen Abbruch, im Gegenteil. Der moderne weiße Kasten hingegen sieht schnell ungepflegt und hässlich aus, wenn er nicht mehr ganz so weiß ist. Da braucht es viel mehr Aufwand, um Schönheit zu erhalten.
Ein Problem für die Ästhetik sieht Jakoubek auch im Vorherrschen der „Investorenarchitektur“, wie er sie nennt: „Neunzig Prozent von dem, was heute auf den Markt kommt, ist nur noch getrieben von wirtschaftlichen Interessen. Das hat auch damit zu tun, dass die Zuständigen in erster Linie Juristen oder Betriebswirte sind, die mit Ästhetik und Architektur einfach nichts zu tun haben. Man verwendet Architektur nur noch, um dem ganzen ein Häubchen aufzusetzen. Man greift in die Trickkiste des Kommerzes, um sich am Markt zu positionieren. Das ist natürlich extrem schade.“ Dem habe man versucht entgegenzuwirken, indem man die Architektur im Planungsprozess mit Künstlern provoziert habe – den Anfang habe das Büro Herzog & de Meuron gemacht, auch Jakoubek selbst habe die gezielte Störung bei ein paar Projekten eingesetzt. „Einige haben sich vor der Auseinandersetzung gescheut, aber andere haben die Gelegenheit genutzt und sich von der Kunst inspirieren lassen.“
Die inneren Werte
Doch genug der Architektur – Sagmeister hält seine Keynote im Formdepot. Hier geht es um die inneren Werte – das Interior Design. Doch er geht weder in seinem Vortrag noch in dem zugrunde liegenden Buch besonders auf das Thema Interieur ein. Das liege nicht daran, dass er dafür nichts übrig hätte, beteuert er – er verstehe einfach nicht sehr viel davon. Eines könne man aber feststellen: „Je näher etwas am Menschen ist, desto schwerer ist es für den Designer. Besonders gut kann man das im Schmuckdesign feststellen. Meistens beruft man sich dann auf die Vergangenheit, aber wenn Schmuck zeitgenössisch ist, dann hängt gerne einmal ein modernes Kunstwerk um den Hals – es ist schwer, hier einen Mittelweg zu finden. Interieur ist ein bisschen weiter weg und damit leichter – aber natürlich wird es von den Menschen als enorm wichtig empfunden.“ Die Wirkung von Interior Design, die hat er am eigenen Leib erlebt: „Wir sind vor Kurzem in ein neues Studio gezogen. Das vorherige war zwar sehr schön, aber im Nachhinein betrachtet muss ich zugeben, war es mit zu wenig Liebe gestaltet. Jetzt sind wir in einem viel schöneren Studio und ich merke, dass ich dort viel produktiver bin und auch viel mehr Zeit verbringe.“ Joachim Mayr, das M im Architekturbüro M&G, der auch federführend in der Organisation des Formdepot ist, schildert ähnliche Erfahrungen. „Ich habe einmal ein kleines Experiment gemacht. Wir haben ein Haus in Lunz am See, wo ich drei Gästezimmer gebaut habe, die wir vermieten“, erzählt er. „Die habe ich auf M&G Standard eingerichtet, eigentlich völlig unwirtschaftlich, da stehen Lampen um 1000 Euro drin. Dementsprechend müssen wir auch recht viel Geld verlangen, damit sich das rechnet. Aber ich wollte ein Statement setzen und sehen, was passiert, wenn wir in einem kleinen Ort wie Lunz einfach etwas sehr Schönes machen.“ Das Ergebnis: Man kommt wieder. „Am Anfang haben viele Bedenken, vor allem Radfahrer, die nur für eine Nacht bleiben, fragen sich, warum sie für ein Zimmer ohne Frühstück 120 Euro zahlen sollen. Aber dann sind alle total glücklich, weil die Zimmer so schön sind. Und im nächsten Jahr kommen sie dann vielleicht für eine Woche.“
Schönheit lockt an. Sie bewegt uns auch dazu, die Dinge gut zu behandeln. Für Mayr kommt das in einem Beispiel besonders schön heraus – Sagmeisters Tasche. Seine schwarze Ledertasche mit eingearbeitetem Muster verwende er schon seit Jahrzehnten, erzählt der Grafikdesigner. Weil er sie einfach schön findet. Alle paar Jahre werde sie beim Schuster repariert. „Und damit ist sie natürlich viel nachhaltiger als jede Bio-Jute-Tasche.“ Auch Mayr hat ähnliche Erfahrungen gemacht: „Die ersten Projekte, die Ernst Glatzl und ich realisiert haben, sind mittlerweile 20 Jahre her. Erst vor Kurzem war ich wieder in einer Wohnung – und die sah immer noch genau so aus, wie wir sie damals gestaltet haben. Sie war immer noch schön – auch weil man sieht, dass sich die Menschen in dieser Umgebung über 20 Jahre weiterentwickelt haben. Schönheit hat für mich einfach wahnsinnig viel mit Qualität zu tun. Aber auch die Geschichte dahinter muss stimmen.“
Ikone Stuhl
Einer der größten Fehler des 20. Jahrhunderts sei das Missverstehen des Zitats „Form follows function“ gewesen, ist Sagmeister überzeugt. Das Zitat selbst stammt vom Chicagoer Architekten Louis Sullivan, dessen Formen überhaupt keiner Funktion folgten, erzählt er. Viele Designer hätten das Zitat so verstanden, dass etwas, das gut funktioniere, automatisch schön sei. „Das stimmt einfach nicht“, stellt Sagmeister klar. „Auch in meinem Beruf gibt es bei Konferenzen am Podium immer einen Idioten, der sagt: ‚Beauty is bullshit, I’m a problem solver.‘ Die Funktionalität zu erreichen ist das Einfachste.“ Man nehme beispielsweise einen Stuhl – man weiß die ideale Sitzhöhe, den optimalen Winkel der Rückenlehne. „Wenn es nur darum geht, dass der halbwegs bequem ist, kann ich hundert Stühle am Tag machen. Aber einen schönen Stuhl zu entwerfen, der zeitgerecht 2021 ist – das ist unglaublich schwer. Denn dann bin ich in Konkurrenz zu 5000 Jahren Stuhlgeschichte.“
Auch Mayr hegt Bewunderung für ikonische Sitzmöbel: „Meist ergibt sich die Schönheit für mich aus der Gesamtheit. Im Möbeldesign ist der einzige Gegenstand, den ich als einzelnes Stück als schön bezeichnen würde, der Sessel. Es gibt kein anderes Ding – außer vielleicht in diesem Jahrhundert das Auto –, in das im Laufe der Geschichte so viel Mühe und Energie hineingeflossen sind wie in den Sessel.“ Jeder, der eine Design- oder Architekturausbildung gemacht und sich an einem Sessel versucht habe, kenne das Problem. „Das ist so unglaublich schwer – weil du so voll bist mit Bildern.“ Der leidenschaftliche Koch bringt es auf den Punkt: „Es ist, als würdest du versuchen, eine nie dagewesene Eierspeis zu machen. Was immer dir einfällt, es war sicher schon einmal da.“
Schönes zu schaffen ist viel schwieriger, als Funktionales zu schaffen. Gleichzeitig weiß jeder, der voller Bewunderung vor einem Kunstwerk im Museum steht, sich an seiner neuen Einrichtung erfreut oder so etwas Einfaches wie eine liebevoll angerichtete Eierspeis am Teller betrachtet – Schönheit folgt nicht Funktion. Sie ist Funktion.