Hitze, Abgase und Feinstaubbelastung können das Stadtleben im Sommer unerträglich machen. Pflanzen sind nicht nur attraktiv, sie senken auch die Temperatur und produzieren Sauerstoff. Lassen sich die Folgen des Klimawandels durch grüne Architektur abfangen?
Nach mehreren sehr heißen Sommern in Folge steht fest: Das Leben in der Großstadt ist in der warmen Jahreszeit kein ungetrübtes Vergnügen. Im dritten Jahrtausend ist der Klimawandel nicht länger eine ungewisse Zukunftsvision, er bringt auch Städte im an sich gemäßigten Klima Mitteleuropas ihrem Siedepunkt nahe – mit spürbaren gesundheitlichen Belastungen für die Bewohner. Ohnehin bilden dicht bebaute Flächen wahre Hitzeinseln: Glas reflektiert das Licht der Sonne, Asphalt und Beton speichern Hitze – und schnell sind die Temperaturen kaum noch auszuhalten. Die Frage, wie die Städte unter diesen Bedingungen ihre Attraktivität bewahren können, stellen sich außer Politikern vor allem Stadtplaner und Architekten. Sie können durch die Wahl ökologisch verträglicher Materialien und hohe Energieeffizienz ihrer Bauten umweltschädliche Einflüsse verringern – oder sogar aktiv gegensteuern. Pflanzen sind dabei das Mittel der Wahl.
Pflanzen kühlen und lindern Umwelteinflüsse. Ihre positive Wirkung aufs Klima gilt als unumstritten. Im Sommer können die Temperaturunterschiede zwischen Innenstadt und Wald bis zu fünfzehn Grad betragen. Eine gesunde Buche im besten Alter etwa filtert eine Tonne Feinstaub im Jahr, produziert 4,6 Tonnen Sauerstoff und verarbeitet dabei 6,3 Tonnen Kohlendioxid. Da liegt es nahe, die Vorzüge der Flora in die Architektur von Städten zu integrieren. Nur: Wie begrünt man Gebiete, in denen der Quadratmeterpreis weit höher ist als die Zahl der Bäume im Stadtpark, man also nicht großzügig in die Breite pflanzen kann?
Seit längerem beschäftigen sich Architekten, deren konventionelle Arbeit einen merklichen Anteil am weltweiten CO2-Ausstoß hat, mit dieser Frage und haben verschiedene Antworten gefunden. Die beliebteste: Vertikalgärten. Wenn nicht horizontal begrünt werden kann, dann eben da, wo Platz ist: an den Fassaden von Hochhäusern. Aber auch begrünte Dächer und Terrassen können einem Hochhaus einen neuen Charakter mit kühlender Nebenwirkung verleihen. Begrünte Flächen schützen auch in der Höhe vor Sonneneinstrahlung, reduzieren die Hitze im Inneren, produzieren dazu Sauerstoff und erfreuen Vögel und Insekten. Allerdings muss die Statik stimmen, denn der Bewuchs wiegt schwer. Und auch die Wasserversorgung kann aufwendig sein – was Hobbygärtnern, die sich auf eigenem Grund und Boden an grünen Wänden versuchen, leicht Probleme bereitet.
Die Erfindung des vertikalen Gartens
Der 1953 in Paris geborene Botaniker Patrick Blanc gilt als der Erfinder der modernen „mur végétal“, der grünen anstelle einer nackten Wand. Er entwickelte eine Struktur aus einem Metallgerüst, einer PVC-Platte und zwei Lagen reißfestem Filz aus recycelten Acrylfasern, die die physischen Gegebenheiten von Felslandschaften imitiert, das Gewicht der Pflanzen zuverlässig hält und über Bewässerungsleitungen verfügt. Das hydroponische System, bei dem die Wurzeln in der Flüssigkeit liegen, spart das Gewicht von Erde ein. Mithilfe seiner patentierten Unterbauten schuf Blanc zahlreiche Fassadengärten, von denen viele seit Jahrzehnten blühen und gedeihen: Der 1988 angelegten Fassade des Wissenschafts- und Industriemuseums in Paris folgten zehn Jahre später die der Fondation Cartier in der Hauptstadt und im Jahr 2000 die grüne Außenwand des Aquariums in Genua. Mehr als zwanzig weitere Projekte in der ganzen Welt kamen im Lauf der Zeit dazu, darunter die französische Botschaft in Neu-Delhi, das Museum Caixa Forum in Madrid, das Pariser Musée du Quai Branly, das Siam Paragon Shopping Center in Bangkok, ein weiteres Einkaufszentrum in Melbourne, das elegante Athenaeum Hotel in London sowie das Museum für zeitgenössische Kunst in Busan in Südkorea. Blanc setzt dabei besonders auf Vielfalt – seine grünen Wände sind die Heimat hunderter Pflanzenarten.
Überwucherte Wolkenkratzer in Singapur
Singapur, wo 5,7 Millionen Menschen auf 728 Quadratkilometer Fläche in ganzjährig tropisch-feuchtem Klima leben, ist früh auf den grünen Zug aufgesprungen. Zwar sind neun Prozent der Fläche des Staats für Parks und Schutzgebiete reserviert. Doch die Bevölkerungszahl steigt weiter und mit ihr der Bedarf an Wohnungen – und auch die Umweltbelastung durch Abwärme von Klimaanlagen und andere Emissionen. So ist kaum überraschend, dass Singapur im Bereich begrünter Architektur führend ist – die Stadt gilt sogar als die grünste Asiens und strebt im Bereich grüner Architektur nach dem weltweiten Spitzenplatz. Nicht umsonst verfügt auch der internationale Flughafen der Stadt bereits seit langem über Pflanzeninseln und Grünflächen; mittlerweile gehört auch der Komplex Jewel mit mehrstöckigen Innengärten dazu. Ein Beispiel für üppige vertikale Begrünung der City ist das Parkroyal Collection Pickering Hotel. Den Architekten Wong Mun Summ und Richard Hassell des in Singapur ansässigen Architekturbüros WOHA gelang es, neben 367 Zimmern und Suiten 15.000 Quadratmeter begrünte Terrassenflächen in den Bau zu integrieren – eine Art floraler Schutzpanzer, der aussieht, als habe tropische Vegetation das Gebäude geradezu überwuchert. Die beiden Architekten sind auf sozial wie ökologisch nachhaltige Projekte spezialisiert und haben zahlreiche Bauten entworfen, deren oftmals aufgebrochene Fassaden üppig bepflanzt sind. Dazu zählen etwa das Oasia Hotel Downtown in Singapur, ein hoher Turm, dessen Fassade vollständig bewachsen ist, und die Kunsthochschule der Stadt, bei der die vertikalen Grünflächen durch eine verschachtelte Anordnung der Gebäudeteile maximiert wurden.
Vertikaler Wald in Mailand
Auch in Europa haben vertikale Gärten stark an Popularität gewonnen. Die vom Architekturbüro Boeri Studio entworfenen 80 und 112 Meter hohen Zwillingstürme Bosco Verticale in Mailand gehören zu den Vorzeigeprojekten. Die Türme sind mit 900 zum Zeitpunkt der Anpflanzung bereits mindestens drei Meter hohen Bäumen sowie mehr als 2000 weiteren Pflanzen auf Terrassen und Balkons begrünt. „Ein Heim für Bäume, in dem auch Menschen und Vögel wohnen“, so beschreibt Architekt Stefano Boeri sein Projekt, das 2014 nach sieben Jahren Planungs- und Bauzeit fertiggestellt wurde. Ein Team aus Botanikern arrangierte Bäume und Sträucher zu blühenden Kunstwer- ken; Kräne übernahmen das Pflanzen. Gitter in den Pflanzwannen schützen die Bäume vor Stürmen. Der vertikale Wald ist ein besonders aufwendiges Beispiel; die Gartenarbeiten entsprechen für jeden Haushalt monatlich einer zweiten Miete. Der ökologische Wert ist allerdings ebenfalls hoch, denn der Bewuchs der beiden Türme entspreche in der Horizontale einer Fläche von 30.000 Quadratmetern Wald und Gebüsch, so Boeri – konzentriert auf einer Fläche von 3000 Quadratmetern. 1600 Vogel- und Schmetterlingsarten seien laut Boeri im vertikalen Wald heimisch und bilden im Nordosten des Zentrums eine ökologische Oase. Aber nicht nur das: „Der grüne Vorhang reguliert die Luftfeuchtigkeit, produziert Sauerstoff und absorbiert CO2 und Feinstaub“, zeigt sich Stefano Boeri begeistert. Dafür gab es dafür 2014 den International Highrise Award des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt und 2015 den Preis für das beste Hochhaus der Welt vom Council for Tall Buildings and Urban Habitat (CTBUH).
Grüne Skipiste auf dem Kraftwerk
Bjarke Ingels, dänischer Architekturstar und Gründer des weltweit operierenden avantgardistischen Architekturbüros BIG, denkt gewohnheitsmäßig außerhalb konventioneller Vorstellungen. Sein Credo: „Yes is more“ – offen und aufgeschlossen an neue Ideen herangehen. „Nachhaltigkeit sollte kein moralisches Opfer, kein politisches Dilemma oder philanthropische Mission sein“, findet Ingels. „Es muss eine Herausforderung fürs Design sein.“ So hat er 2019 mit dem Komplex CopenHill in Kopenhagen Grünes, Nützliches und Vergnügliches miteinander verbunden und auf das Dach eines Müllheizkraftwerks eine grüne, schneefreie Skipiste gesetzt. Für ihn ganz logisch. Denn: „Wir müssen uns eine Welt mit positiven sozialen und ökologischen Nebenwirkungen an der Fassade sogar als ein Prototyp gelten. „Die Integration von Pflanzen in die städtische Architektur ist eine von vielen notwendigen Maßnahmen für eine lebenswerte Stadt der Zukunft“, erklärt Martin Treberspurg, Professor für Architektur. Gründächer seien eine kostengünstige und effektive Maßnahme für die städtische Hitzeregulierung. Gebäudeintegrierte Photovoltaik, klimafreundliche Baustoffe, Fassadenbegrünungen seien weitere zukunftsweisende Maßnahmen. Denn: „Pflanzen filtern Feinstaub, verbessern die Luftqualität und schützen vor Lärm“, so Treberspurg. Dass begrünte Gebäude positiv zur Regulierung des Stadtklimas beitragen, sei durch zahlreiche Forschungen bestätigt. Auch Ergebnisse einer Studie der Universität für Bodenkultur Wien zeigten, dass begrünte Fassaden eine positive Wirkung auf das Mikroklima haben. „Eine weitere Maßnahme zur Reduzierung der Hitze in der Stadt sind thermische Sonnenkollektoren und Photovoltaik auf Gebäudedächern, die Wärme abführen und zu einem angenehmen Stadtklima beitragen“, weiß Martin Treberspurg.
Urban Farming in der Hauptstadt
Sein eigenes Architekturbüro Treberspurg & Partner hat bereits vor 20 Jahren ein erstes Projekt mit grüner Fassade an der Brünner Straße im 21. Bezirk realisiert: ein durch Kletterpflanzen an Rankgittern üppig begrüntes Gebäude. Beim 2019 fertiggestellten Wohnhaus wabe23 im 23. Bezirk spielt neben der Begrünung auch Urban Farming eine Rolle. Die Wohnungen verfügen nicht nur über Balkone mit integriertem Pflanztrog zum individuellen Gärtnern. Treberspurg: „Die Bewohner haben auch die Möglichkeit, auf den Gemeinschaftsterrassen Gemüse, Obst und Kräuter anzubauen.“ Kübelpflanzen, Rankgitter und Hochbeete werden auch hier allmählich zur grünen Fassade zusammenwachsen.
Grünes Quartier am See
Eine grüne Stadt am See vor den Toren Wiens hat das Architekturbüro Vienna International Engineers VIE entworfen. Allein die Lage zwischen Wald und See wirkt an heißen Sommertagen wie eine kühlende Kompresse. Jedes der 45 hochwertig ausgestatteten Einfamilienhäuser im Wald- und Seequartier Velm verfügt über einen Garten, einige zusätzlich über einen Holzsteg in den See. Dank Kinderspielplatz, Tennis- und Beachvolleyballplätzen sowie einer allgemeinen Liegeweise können die Bewohner zehn Kilometer von der Stadtgrenze Wiens entfernt Urlaubsfeeling im Alltag erleben – und im Sommer den kühlenden Effekt von Wald und Wasser genießen.
Die Frage, wie viel Grün nötig ist, um das Klima in der Stadt spürbar zu verbessern, hat sich auch die Landesregierung von Baden-Württemberg gestellt. In Stuttgart, wo sich dank der Kessellage in der warmen Jahreszeit eine besonders hartnäckige Decke von Feinstaub und Abgasen über die Stadt legt, ist wie im übrigen Bundesland seit 2015 bei allen Neubauten, die über keinen Garten verfügen, die Begrünung von Flachdächern mit einem Winkel von bis zu zehn Grad verpflichtend. Denn jeder Flecken zählt.