In einer Zeit der Globalisierung werden Menschen, Nationen und Kontinente einander immer ähnlicher. Kann man die Sehnsucht nach dem Charakteristischen, nach dem Einzigartigen trotzdem stillen? Ja, man kann.
Schon unser Leben beginnt mit einer Suche nach dem Besonderen, nach Dingen, die klar zuordenbar sind und Orientierung geben in einem Kosmos, der Ecken und Kanten braucht, um seine eigene Definition zu finden. Auch dem Design, das stets dem Anspruch genügen muss, universell und zeitlos zu sein, tut es gut, wenn es sich abgrenzen kann – durch positive Aspekte, die ein- und keinesfalls ausschließen.
Design ohne Limits
Schon immer haben sich Kulturen gegenseitig beeinflusst und inspiriert. Im modernen Design ist es Gang und Gebe, von gestalterischen Fusionen zu sprechen, die beispielsweise den Orient mit dem Okzident verknüpfen. Und doch bleibt ein gewisser Reststolz übrig, der sich gegen ein völliges Unkenntlichmachen wehrt; den Menschen die Imagination raubt, sich mit einem einzelnen Stück nach Italien, nach Schweden, nach Südamerika oder nach Japan versetzt zu fühlen. Von allem etwas zu haben, doch selbst nicht richtig zuordenbar zu sein, ist heute wenig attraktiv. Dies ist auch der Grund, warum Design zwar multilingual, jedoch nicht identitätslos sein darf. Der beste Beweis dafür sind die berühmten Klassiker, die ikonisch für eine Strömung, ein Land, für einen Designer stehen und damit für eine Geschichte, Um die nur dieses Möbelstück zu erzählen vermag.
Alles Gute kommt von oben
Um diese feinen Nuancen, die, wenn man zwischen den Zeilen liest, durchaus ausdrucksstark sein können, zu sehen und zu verstehen, muss man nicht erst seine Koffer packen. Von den eigenen vier Wänden aus – oder besser gesagt – in den eigenen vier Wänden kann man von seinem Lieblingsplatz eine gedankliche Entdeckungsreise um die Welt starten – die vielleicht mit dem Sofa, auf dem man vielleicht gerade sitzt, beginnt. Und zwar im hohen Norden, wo sich seit vielen Jahrzehnten ein natürlicher Look mit viel hellem Holz und einer raffinierten Funktionalität etabliert haben. Das Design, wie es das dänische Label Carl Hansen & Son, das finnische Unternehmen Artek oder der schwedische Hersteller String verstehen, ist ein einfaches, das wenig Opulenz zeigt, dafür jedoch eine Menge Raffinesse und das Potenzial, Platz zu sparen. Nicht ohne Grund leiten sich aus diesem Mix an Eigenschaften viele Ansätze zur Nachhaltigkeit ab, wie sie Designikonen wie Hans J. Wegner, Alvar Aalto oder Nils Strinning bereits vor vielen Jahrzehnten vorhergesehen haben dürften.
Das eigene Ding machen
Funktionalität und Holz sind auch die Zutaten für Design aus dem Osten, das sich nicht immer, aber manchmal doch aus der nordischen Schmucklosigkeit entfernt und das Handwerk auch in ornamentaler Form zum Vorschein kommen lässt. Urban und mondän zeigen sich die zeitgenössischen Entwürfe von Prostoria, während sich Zanat nur schwer der Schönheit des Holzes entziehen kann: dezent, aber sichtbar lässt man hier den Möbeln ein paar traditionell angehauchte Verzierungsdetails angedeihen. Beide Unternehmen sind auf dem Balkan beheimatet und behaupten sich seit vielen Jahren erfolgreich auf der internationalen Einrichtungsbühne.
Philosophie? Dolce Vita!
Weiter im Süden bewegt man sich auf vertrautem Terrain. Neben Italien, das man seit Generationen immer schon als Wiege des Designs betrachtet, sind es auch Spanien und Portugal, die kräftig kreativ nachziehen. Während es bei den beiden ersten schon richtig schwierig wird, aus den vielen Herstellern, die in dieser Region noch am meisten am Konzept Familienbetrieb festhalten, einen einzelnen herauszugreifen, der stellvertretend für das Land steht. So ist Portugal noch im Aufbruch und bringt Unternehmen wie Expormim hervor, die das, was den Süden ausmacht, in ihrem Design ausdrücken. Das „Drinnen ist Draußen“, das Erdverbundene vor allem in der Farblichkeit, aber auch im Material; genauso wie eine Unbeschwertheit und Leichtigkeit, die diesen Möbeln stets innewohnt. Auch wenn die iberische Halbinsel selten auf Klassiker im eigentlichen Sinn zurückgreifen kann, so schlägt man sich wacker an der Seite eines übermächtigen Italien, in dem es aus jeder Ecke vor Kreativität nur so sprudelt, dass man meinen könnte, dass Design überhaupt hier erfunden wurde. Das gestalterische Füllhorn Europas scheint nie zu versiegen und ist besonders stolz auf sein „Made in Italy“, das man – und das muss man den Italienern neidlos lassen – auf der ganzen Welt wiedererkennt.
Frischer Wind auf West
Um das „Niemals Ohne Seife Waschen“ im Uhrzeigersinn voll zu machen, blicken wir nach Westen, wo sich sämtliche Einflüsse aus allem bisherig Genannten zu einem neuen Zugang vermengen. Zum einen sind da die Franzosen, die gerne noch am Flair des Mittelmeers mitpartizipieren und manchmal auch kräftig in den Farbtopf greifen, sich aber auch zu erklärten Klassikern hingezogen fühlen. So feiert etwa nicht nur Ligne Roset als Marke dieses Jahr 50. Geburtstag, sondern auch der Inbegriff der 1970er Jahre, das Sitzmöbel Togo von Michel Ducaroy, das ebenfalls 50 Jahre alt wurde. Auch Pierre Paulin war gern gesehener Gast im Hause Roset, ein Name, der heute auch andere Labels wie des niederländischen Herstellers Artifort ziert. Apropos Niederlande: Auch sie hatten immer schon eine Art Vorreiterrolle, die sich meist in einem experimentellen Designansatz ausdrückt oder aber mit viel Humor, Ironie und Lebensfreude wie es Marcel Wanders mit seinem Moooi-Universum repräsentiert. Ganz im Gegensatz zu den skandinavischen Nachbarn wird es hier bunt getrieben und durchaus ausladend. Kurz: Nordische Zurückhaltung sieht anders aus. Die Briten mögen es da schon ein wenig nüchterner, vielleicht sogar gediegener wie man beispielsweise bei Ercolani beobachten kann, wobei auf der Insel auch der schwarze Humor recht gut in Szene gesetzt werden kann – Stichwort Tom Dixon.
Die goldene Mitte
Die Mitte Europas, zu denen neben Deutschland und der Schweiz zweifellos all das zählt, was man früher als Kronländer bezeichnete, lebt insbesondere gerne ihr gestalterisches Erbe weiter, öffnet sich andererseits all dem, was an Einfluss von außen über die österreichische Grenze kommt. Traditionsunternehmen wie Wittmann und Lobmeyr stehen hoch im Kurs als Familiendynastien, die weit in die Geschichtsbücher zurückreichen und mit den Großen der Wiener Werkstätte eng zusammengearbeitet haben. Doch auch bei aller historischen Treue hat man hier erkannt, dass sich das Rad der Zeit weiterdrehen muss; dass neue Perspektiven von außen die bestehenden Kollektionen von außerordentlicher österreichischer Qualität aufpolieren und in ein neues Licht rücken. Besonders stolz ist man auf die Manufakturen, die sich in ihrer Arbeitsweise kaum verändert haben und dennoch zeitgemäße Glanzstücke hervorbringen. Altes neu interpretieren, das ist beispielsweise auch die Stärke von Ton, gegründet von Michael Thonet, wo bis heute das Holz aus den eigenen Buchenwäldern rings um die Produktionshallen in den Originalschablonen über Dampf gebogen werden. Der Hände Arbeit wird auch in Deutschland hochgehalten, wo man wie bei Walter Knoll etwa aus Sattelleder edle Sitzmöbel schneidert und verchromtes Stahlrohr seit der Bauhaus-Zeit eigentlich nie wieder aus der Mode kam.
Über den Tellerrand
Zeit, den Horizont noch weiter zu öffnen und einen Blick über den Atlantik zu werfen. In den Vereinigten Staaten wird das Design aus „good old europe“ stets hochgehalten und ist aus diesem Grund auch stark davon beeinflusst. Doch es gibt sie auch, die Pioniere der Möbelkunst, die das europäische Gedankengut aufgenommen und ausgebaut haben. Gerade in den Jahrzehnten Vierziger, Fünfziger und Sechziger sind viele Möbelstücke in die Designgeschichte eingegangen. Einige davon sind heute unter dem Dach von Knoll International beheimatet, wie die unverwechselbare Kollektion von Warren Platner oder die Kreationen von Florence Knoll, die sich in der männlich dominierten Einrichtungsbranche einen Namen machte. Auch Richard Shultz ist hier eine eigene Kollektion gewidmet, ebenso wie dem amerikanischen Künstler Charles Pollock, ältester Bruder von Jackson Pollock. Mit den berühmten Importen aus Europa von Ludwig Mies van der Rohe, Eero Saarinen, Harry Bertoia oder Marcel Breuer sind sie alle in bester Gesellschaft. Doch es gibt noch einen, der die amerikanische Designgeschichte mitgeprägt hat: Architekt Norman Cherner, der vor allem für sein Möbeldesign bekannt ist, aber ein umfassendes Werk hinterließ, das fast alle Aspekte des Designs – von Grafik, Glaswaren und Beleuchtung bis hin zu seiner Pionierarbeit im Fertighausbau – berührte. Cherner stand für ein ganzheitliches Designkonzept und erschwingliche Möbel, die speziell für preisgünstige, modulare Wohnungen entworfen wurden. Eines der ersten vorgefertigten Häuser in den Vereinigten Staaten war das „Pre-built“ von Cherner. Die Nachfrage nach den Entwürfen von Norman Cherner war groß und mündete in der Gründung der Cherner Chair Company durch seine Söhne Benjamin und Thomas. Dort werden heute die neu aufgelegten Entwürfe mit der gleichen Liebe zum Detail hergestellt wie die ursprünglichen handgefertigten Klassiker.
Liebe, Lust und Leidenschaft
Etwas weiter südlich wird es, ähnlich wie in Europa wieder bunt bis schrill, leicht bis luftig, unkompliziert bis einfach. In Mittel- und Lateinamerika drückt sich Lebensfreude und die Intensität einmal mehr durch einen bunten Reigen von kräftigen, selbstbewussten Farben aus, die mit traditioneller Handwerkskunst im wahrsten Sinne des Wortes eng verknüpft werden. Fast alles vermittelt ein Gefühl von Selbstverständlichkeit, mit der man alles verarbeitet, was einem die Natur schenkt. Während Argentinien und Brasilien, das auf den internationalen Möbelmessen seit vielen Jahren immer für einen eindrücklichen Auftritt mit außergewöhnlichen und exotischen Entwürfen sorgt, teilweise auch sehr von europäischem Design geprägt sind, lassen man sich in anderen Ländern – wie Kolumbien, wo das heute in Deutschland ansässige Unternehmen Ames seine Wurzeln hat – mehr von indigener Kunst, Arbeitsweise und Gestaltung inspirieren. Allem vom Möbelstück bis zum Accessoire wohnt eine unbändige Fröhlichkeit inne, die man in dieser Form in Europa, in Amerika, aber auch in Asien nicht finden wird. Bei Ames wird aber noch viel weitergedacht: Alle Produkte entstehen in partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit kolumbianischen Handwerkern. Die kleinen und familiengeführten Ateliers fertigen in Handarbeit mit größtenteils aus dem Land bezogenen Rohstoffen. Damit wird in ökologischer und in sozialer Hinsicht nachhaltig produziert. Überbordend sind manchmal auch die Formen, denkt man beispielsweise an die organische Badewanne DR vom brasilianischen Designer Marcio Kogan, die in Italien bei Agape Design für viel Furore sorgte.
So fern und doch nah
Die letzte Etappe unserer Weltreise im Wohnzimmer bringt uns schließlich über den Pazifik nach Asien, wo die Herangehensweise bei den Entwürfen eine ganz andere ist. Und damit auch die Form der Produkte. Natürlich gibt es hier wie überall auf der Welt regionale Unterschiede. So kann man den begnadeten Strichzeichner Nendo – das Pseudonym, unter dem der japanische Designer Oki Sato arbeitet – mit dem philippinischen Designer Kenneth Cobonpue in keinster Weise vergleichen: Während der eine den formalen Minimalismus auf die Spitze treibt, kreiert der andere ausgefallene, aber sehr authentische und detailreiche Kollektionen aus Rattan und Textilien. Cobonpue übernahm das Unternehmen nach seinem Designstudium in New York von seiner Mutter, selbst eine Pionierin in der Rattanmöbelproduktion. Dieser Überschwang mit vielen Rundungen und kräftigen Farben steht im totalen Kontrast zum grafisch anmutenden Design Japans, zu dessen Vertretern Karimoku New Standard zählt, ein 1940 von Holzhändler Shohei Kato gegründetes Unternehmen in Kariya, Präfektur Aichi. In den 1940er Jahren stellte sein Unternehmen Spinnmaschinen her, um die Industrie beim Wiederaufbau nach dem Krieg zu unterstützen. Als Zulieferer für verschiedene Holzprodukte wie Nähmaschinentische, Klaviere und TV-Ständer mit Beinen baute das Unternehmen nach und nach sein technisches Know-how in der Holzverarbeitung und Malerei aus und erfüllte sich Anfang der 1960er Jahre schließlich den lang gehegten Traum, in Japan Originalmöbel herzustellen, die das typische Schwarz-Weiß richtig zelebrieren.
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In Europa bleibt stets ein gutes Stück Faszination gegenüber der asiatischen Kultur, die immer in sich zu ruhen scheint, hängen, und wir binden sie in unsere Ideen für das neue Wohnen der Zukunft ein. Auf diese Weise schließt sich der Kreis, den wir im Norden Europas begonnen haben, dort, wo es eine Art kontemplative Seelenverwandtschaft gibt im Verständnis gegenüber Funktion, Form, Farbe, aber auch in dem Gefühl, was ausreicht, um glücklich zu sein.